Interview Claudia de Witt

Kann KI die Hochschulbildung revolutionieren?

By Lavinia Ionica and others
11/30/2020 - 14:20

Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung weckt große Erwartungen an eine verbesserte Qualität des Lehrens und Lernens. Als Professorin für Bildungstheorie und Medienpädagogik an der FernUniversität in Hagen erforscht Claudia de Witt Methoden und Anwendungen von KI in Studium, Lehre und Weiterbildung. Zusammen mit Niels Pinkwart (DFKI) und Florian Rampelt (Stifterverband) hat sie das Whitepaper „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung“ herausgegeben. Im Gespräch mit dem KI-Campus schildert Prof. de Witt, welche Disruptionen in der Hochschulbildung aus bildungswissenschaftlicher Perspektive zu erwarten sind und welche Rolle dabei KI spielen kann.

Frau de Witt, was fasziniert Sie an dem Forschungsfeld „KI in der Bildung“?
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Bedeutung digitaler Medien für Bildungsprozesse, mit der Digitalisierung von Lehren und Lernen und so eben auch mit der Mensch-Computer-Interaktion aus einer bildungswissenschaftlichen und medienpädagogischen Perspektive. Was mich daran fasziniert, sind die innovativen Potenziale, die mit Technologien, mit Künstlicher Intelligenz verbunden sind und mit denen wir die Zukunft des Lernens und der Bildung so gestalten können, wie wir sie uns vorstellen. An der FernUniversität in Hagen habe ich dafür ein hervorragendes Umfeld gefunden, in dem ich bildungstheoretische Anforderungen mit bildungstechnologischen Lösungen koppeln und mich mit Forschung und Entwicklung für eine zeitgemäße digitalisierte Hochschulbildung einbringen kann. Besonders an der Künstlichen Intelligenz fasziniert mich, dass diese Technologie das Potenzial zu einer Art persönlichen Assistenz – beim Lernen und Lehren – hat und uns helfen kann, unsere kognitiven und metakognitiven Fähigkeiten – also unser Denken, unser Problemlösen und unsere Entscheidungsfindungen – besser zu verstehen.

KI kann zur Bewältigung von verschiedenen Herausforderungen in der Hochschulbildung beitragen. Wo sehen Sie die größten Potenziale? 
Seit der Dartmouth Conference 1956 wird ja Künstliche Intelligenz als wissenschaftliches Fachgebiet geführt, das sich mit Maschinen, Robotern und Software-Systemen beschäftigt, die komplexe Aufgaben selbstständig erledigen, für die menschliche Intelligenz vorausgesetzt wird. Und diese Fähigkeiten lassen sich meines Erachtens nach für die Hochschulbildung nutzbar machen. So können wissensbasierte Systeme in Kombination mit Verfahren des Maschinellen Lernens eingesetzt werden, um sowohl den Wissenserwerb als auch die Kompetenzentwicklung von Studierenden zu fördern. Künstliche Intelligenz kann offene Fragen in Echtzeit bewerten und ist Grundlage für ein intelligentes automatisiertes Assessment; auch lassen sich mit einer automatisierten Bewertung die einzelnen Beiträge von Studierenden beurteilen, was man als „Automated Essay Scoring“ bezeichnet. Chatbots beantworten administrative Fragen von Mitarbeitenden und Studierenden im laufenden Betrieb. Educational Data Mining-Modelle erkennen den Lernfortschritt, die Motivation und die metakognitiven Zustände von Lernenden über einen längeren Zeitraum und ermöglichen automatische Reaktionen in Form von KI-Stimmungsanalysen oder -Vorhersagesystemen. Mit KI könnten beispielsweise Studiengänge und -module nach den Maßgaben personalisierten Lernens und personalisierter Kompetenzentwicklung aufgebaut werden. Auch die Lehrenden können durch eine Art „KI-Teaching-Assistant“ begleitet werden, der ihnen bei der Qualitätsentwicklung ihrer Lehre hilft.

Zeitgemäß sind adaptive, personalisierte Lernformate, die speziell die Diversität der Studierenden mit ihren Stärken und Schwächen sowie deren Selbstregulation und Selbstwirksamkeit im Studium unterstützen und sich dementsprechend flexibel und „intelligent“ deren individuellen Lernbedürfnissen anpassen. KI-unterstützte Lernplattformen und intelligente Assistenzsysteme in Form von Recommendern bzw. (Sprach-)Bots können die spezifischen Bedarfe der Studierenden erfassen, sich auf deren Lernziele, -strategien, -organisation und -fortschritte fokussieren und mit Vorschlägen den weiteren Lernprozess in allen Studienphasen individuell unterstützen. Neben wissensbasierten Expertensystemen, Maschinellem Lernen und Learning Analytics kommen Academic Analytics bzw. Educational Data Mining zum Einsatz. Sinnvoll sind hybride KI-Systeme, weil sie beispielsweise die Vorteile des Maschinellen Lernens mit Domänenmodellierungen und Expertenwissen kombinieren und Prinzipien wie Erklärbarkeit, Vorhersagbarkeit und Nachvollziehbarkeit enthalten. 

Die Grundlage für einen erfolgreichen Einsatz von KI-Systemen in der Hochschulbildung sind verlässliche Daten. Wie und wo entstehen an Hochschulen Daten und in welcher Qualität liegen sie vor? 
Daten an Hochschulen entstehen spätestens mit der Einschreibung. Es folgen Eingangsbefragungen, Zufriedenheitsbefragungen, Evaluationen von Veranstaltungen und Kursmaterialien, es liegen Prüfungsdaten vor. Mit dem sog. ECTS-Monitoring lassen sich Studienaktivitäten und -fortschritte durch die Ermittlung von Ist- und Soll-ECTS-Punkten messen und Studienverläufe nachzeichnen. In den Lernumgebungen werden durch die Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden ebenfalls Daten erzeugt. Für KI-Anwendungen müssen im Sinne des Datenschutzes diese Daten unbedingt pseudonymisiert oder anonymisiert werden. Die Qualität der Daten für ein intelligentes System ist dann besonders von der Verknüpfung der Daten aus den unterschiedlichen Quellen abhängig. Grundsätzlich muss man aber immer kritisch hinterfragen, wie die Daten entstanden sind und in welchen Situationen sie wieder eingesetzt werden.

Welche Art von Informationen kann ein digitaler Fußabdruck über das Studierendenverhalten liefern? 
Studierende erzeugen durch ihre Logins in die Lernumgebungen der Hochschule, durch ihre Aktivitäten in Foren, Blogs, Quizze, durch ihre Lese- und Schreibaktivitäten Daten. Diese Daten liefern beispielsweise Informationen über ihre Lernverhalten, die Lernstrategien, mediale Präferenzen oder Kommunikationsverhalten. Für eine enge Abstimmung ihrer individuellen Lernziele, -inhalte, -tempi und -ergebnisse in Interaktion mit dem System lässt sich beispielsweise eine gefilterte Auswahl von Lerninhalten einsetzen. Außerdem eignen sich gute Feedbacksysteme z. B. für die Unterstützung der Selbsteinschätzung und -wirksamkeit („Denke einmal darüber nach, eine andere Lernstrategie anzuwenden“). Checklisten reichen für eine Personalisierung nicht mehr aus, dafür brauchen wir adaptive (Rückmelde-)Systeme, die in der Lage sind, die Bedarfe der Studierenden zu erfassen und individuelle Empfehlungen für den weiteren Lernprozess zu geben. 

Dazu gehören beispielweise Abbildungen und Visualisierungen des Lernfortschritts; mit Hilfe von Daten lassen sich Lernbedarfe sichtbar machen, Reportings können für Studierende erstellt und zur eigenen Bewertung erreichter Aktivitätslevels eingesetzt werden („Woran möchtest du dich messen lassen?“). Nach einiger Zeit können Anpassungen vorgenommen werden („Deine Erwartungen sind zu hoch“). Und „Translanguaging“ (automatisches Übersetzen) hilft Studierenden bei der Einschätzung ihrer Sprachfähigkeiten, ihr Wissen in eigenen Begriffen zu verstehen und auszudrücken.

Ich denke, mittelfristig werden sich unsere bisherigen LMS in diese Richtung verändern. Dies erfordert ein datenorientiertes Verständnis vom lernenden Individuum. Informationen darüber, wer der/die Lernende ist, was seine/ihre Kompetenzen sind, was er/sie gerade tut und welche Ziele er/sie hat, sind nur einige der Informationen, die benötigt werden, um eine passgenaue Unterstützung zu konzipieren. Zudem erfordert der Ansatz nicht nur eine Orchestration von technischen Systemen und Technologien wie Machine Learning, Learning Analytics, Recommendersystemen etc., sondern auch den Einbezug von Lernenden wie Lehrenden, die den Umgang mit Learning Analytics-Dashboards, Empfehlungssystemen und personalisierenden Adaptionen erst noch erlernen müssen, um für sich einen optimalen Nutzen daraus zu generieren. 

Grundsätzlich sollten nur solche Informationen gesammelt und verwendet werden, die für die Studierenden von Bedeutung sind. Und wenn Daten der Studierenden ausgewertet und verwendet werden, sollte dies transparent gemacht werden und nachvollziehbar sein, also welche Daten das KI-System verarbeitet und warum es zu bestimmten Ergebnissen kommt. Dieses Wissen ist wiederum Grundlage dafür, dass Studierende selbstbestimmt und eigenverantwortlich vorgehen können. Wir müssen Künstliche Intelligenz gewissenhaft entwickeln und einen ethisch begründeten Umgang mit KI an der Hochschule kultivieren. Dafür helfen beispielsweise klare Spezifikationen und Evaluationsprozeduren. KI-Systeme sollten also erklärbare KI-Systeme mit nachvollziehbaren Outputs und Entscheidungen sein.

KI kann Lehrende durch einen besseren Einblick in die Bedürfnisse der Studierenden unterstützen. Kann KI in Zukunft das Lehrpersonal vielleicht vollständig ersetzen?
Ich glaube nicht, dass KI das Lehrpersonal vollständig ersetzen wird. Die Technologie wird die Lehrenden sicherlich von einigen Tätigkeiten entlasten, beispielsweise von routinemäßigen Korrekturen von Klausuren oder ständig wiederkehrenden Fragen. KI-Systeme sind zwar in der Lage, auf unendlich viele Datenbanken weltweit in kurzer Zeit zuzugreifen, einschlägige Quellen und aktuelle Studien den Studierenden für ihre individuellen Studienleistungen schneller vorzuschlagen, gegebenenfalls sogar aufbereiten zu können. Der persönliche Kontakt zur Lehrperson, die mehr weiß als das, was im Internet steht, die persönliche Betreuung, ihr kritisches Denken und ihre Erfahrungen sind meines Erachtens nach aber unersetzbar. Wissen verlangt Urteilskraft und erst die Bewertung, Einordnung und Interpretation von Daten kann Wissen konstituieren. Und darin ist eine gute Lehrperson immer noch besser als eine Maschine. Außerdem bleiben Faktoren für die Motivation von Studierenden wie die Empathie einer Lehrperson unerlässlich. 

Andererseits können lehrerorientierte KI-Anwendungen Lehrende dabei unterstützen, ihre eigene Lehre zu verbessern. Um diese Entwicklungen in der Lehre zu nutzen, bedarf es aber auch neuer Konzepte der Hochschuldidaktik. In diese Konzepte muss zum einen die technologische, personalisierte Unterstützung der Studierenden einfließen und zum anderen muss der Aufgabe der Lehrenden als Förderer von kritisch denkenden, selbstbestimmten und gesellschaftlich handlungsfähigen Individuen mehr Raum gegeben werden; ich denke etwa an eine Art Hybrid-Didaktik, die berücksichtigt, dass die Interaktion mit der Technologie immer natürlicher wird und die Kommunikation über unsere Sprache und unsere Gesten erfolgt.

Wie schätzen Sie die Entwicklungen ein: Werden zukünftig sowohl Lehrende, Mitarbeitende in Unterstützungsstrukturen und Verwaltung sowie Hochschulleitungen und Studierende kompetent mit KI-Systemen umgehen können? 
Es ist aus meiner Sicht noch ein längerer Weg, bis wir so weit sind. Hochschulleitungen, Lehrende und Studierende müssen wissen, dass wir uns auf eine starke „Mathematisierung“ des Hochschulwesens zubewegen. KI in der Hochschulbildung bedeutet, mit einer Datafizierung von Lehre, Studium und Forschung, die Vorhersagbarkeits-, Berechenbarkeits- und Kontrolloperationen beinhaltet, konfrontiert zu sein. Alle Akteure in der Hochschule müssen sich mit den Disruptionen, die damit einhergehen, beschäftigen und offen für die Möglichkeiten sein bzw. sich der Grenzen von KI in der Hochschulbildung bewusst werden. Dafür sind Kompetenzen über, mit und trotz KI notwendig, wie wir es in dem Whitepaper „KI in der Hochschulbildung“ beschrieben haben.

Wie könnte die Kompetenzerweiterung in der Hochschulbildung vorangetrieben werden?
Ein gutes Beispiel zur Kompetenzerweiterung durch digitale Bildungsangebote sind der Online-Kurs „Elements of AI“ und natürlich der KI-Campus mit ihren offenen Online-Kursen zum Erwerb von Kompetenzen über KI. Auch scheint es mir, dass an vielen Hochschulen neue Studiengänge und auch kleinere Bildungsangebote zu KI entstehen. Denn es besteht jetzt doch immer mehr die Einsicht, sich über Künstliche Intelligenz, Big Data, Maschinelles Lernen usw. schlau machen zu müssen, da wir nicht nur in der Hochschule, sondern auch im beruflichen Kontext und vor allem auch in unserem Alltag von KI begleitet werden, die Technologie „immer näher an uns heranrückt“ und wir auch häufiger von „augmentierter Intelligenz“ und „augmentiertem Lernen“ sprechen.

An den Hochschulen könnten Studierende beispielsweise über forschungsbasiertes Lernen („Inquiry-Learning“) die Möglichkeiten von KI kennenlernen, sich an praktischen Herausforderungen üben und innovative Lösungen entwickeln, also Grundlagen und Werkzeuge kennenlernen, um dann in Praxisphasen eigene KI-Projekte umzusetzen. Auch sollte die Kompetenzentwicklung in die Curricula der grundständigen Studiengänge integriert werden. Dieser Aspekt sollte bei zukünftigen Akkreditierungen eine Rolle spielen. Es wird im Moment zwar schon viel über die Notwendigkeit der Vermittlung von digitalen Kompetenzen geredet, aber diese noch nicht im notwendigen Umfang und Tempo umgesetzt. 


Das Interview führte Lavinia Ionica, Programmmanagerin beim Hochschulforum Digitalisierung.

Lavinia Ionica
Lavinia Ionica
Programmmanagerin Hochschulforum Digitalisierung
Stifterverband

Lavinia Ionica ist Programmmananagerin beim Hochschulforum Digitalisierung.

 

Lucas Laux
Lucas Laux
Communication Manager
Stifterverband

Lucas Laux betreut die Öffentlichkeitsarbeit des KI-Campus beim Stifterverband. Er studierte Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (M.A.) und an der Universität Passau (B.A.). Sein Fokus liegt auf Themen an der Schnittstelle von Technologie, Kultur und Innovation.