Blogbeitrag Weßels

Nutzung von generativer KI in der Hochschullehre – ein Experiment

Von Prof. Dr.-Ing. Jörn Schlingensiepen
27.09.2023

Jörn Schlingensiepen von der TH Ingolstadt ließ seine Studierenden im Grundlagenfach Ingenieurinformatik systematisch KI-Tools wie ChatGPT nutzen, um ihnen den Einstieg in die Programmierung zu erleichtern. Der Selbstversuch zeigt, dass generative KI-Systeme eine positive Bereicherung für die Hochschullehre sein können.

Große Sprachmodelle (LLM) wie ChatGPT und andere Anwendungen der Künstlichen Intelligenz sind heute in der Lage, Texte, Abbildungen, Animationen zu erstellen, die in ihrer äußeren Form von durch Menschen erzeugten Inhalten kaum zu unterscheiden sind. Im Gegensatz zu den bisher dominierenden KI-Modellen zur Analyse und Vorhersage begrenzter Daten, spricht man hier von generativer Künstlicher Intelligenz (engl. Generative AI), auch wenn man im Deutschen wohl besser von generierender Künstlicher Intelligenz sprechen sollte.

Auch Quellcode, Datenmodelle, Prozessbeschreibungen, Pläne und Ähnliches können damit erstellt werden. Protokolle von Online-Meetings werden automatisch erstellt und zwar nicht als Mitschrift, sondern als Ergebnisprotokoll mit Aufgabenzuordnungen, Abgabeterminen und Ergebniszusagen. Mit AutoGPT gibt es schon ein erstes Tool, das auf Basis verschiedener anderer Systeme Strategien zur Lösung von Problemen vorschlägt und ausführt.

Im November 2022 trat generative KI in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. OpenAI veröffentlichte ChatGPT, einen Bot, den alle wegen der einfachen Benutzungsoberfläche als Chat benutzen können. Für fast jede Fachdisziplin und jede Branche werden großartige neue Anwendungsmöglichkeiten gedacht und umgesetzt.

Auch die Lehre in Schule und Hochschule ist betroffen. Viele Menschen haben dazu unterschiedlich publiziert. Auch ich verfasste einen Beitrag mit der Forderung, dass die neuen Möglichkeiten gerade an unseren anwendungsorientierten Hochschulen und in unseren Studiengängen benutzt und ein kritischer, aber auch professioneller Umgang damit gelehrt werden sollte.

Denn wenn eines der Ziele von Hochschulbildung die Berufsfähigkeit unserer Absolvierenden sein soll, dann gehört der Umgang mit diesen Tools zwingend dazu. Denn diese Tools werden in der Berufswelt selbstverständlich angewendet.

Die Arbeitsgruppe „Digitalisierung der Lehre“ im Hochschullehrerbund (hlb) verfasste ein Positionspapier. Hier ist der Tenor: Die neuen Möglichkeiten müssen adäquat in der Lehre berücksichtigt werden. Den Studierenden müssen Chancen und Risiken vermittelt werden. Für alle Mitglieder der Hochschulen muss ein kostenfreier Zugang zu diesen Tools gewährleistet werden.

IBM hat mögliche Auswirkungen exemplarisch zusammengefasst und prophezeit, dass Millionen Menschen wegen neuer KI-Anwendungen umlernen müssen. Das Unternehmen verdient mit solchen Change-Prozessen Geld, trotzdem vermittelt die Lektüre einen guten Eindruck vom Umfang der anstehenden Veränderungen.

Diese werfen schon jetzt ihre Schatten voraus. Exemplarisch sei hier nur erwähnt, dass an dem Tag, als das Softwareunternehmen Microsoft angekündigt hat, wie es generative KI in Zukunft monetarisieren möchte (Spoiler: Es wird ziemlich teuer.), deren Aktienkurs erheblich gestiegen ist. Auch McKinsey & Company spricht von einem Produktivitätsbooster.

Man kann also davon ausgehen, dass zumindest die viel zitierten Märkte erhebliches Automatisierungs- und Effizienzsteigerungspotential sehen. Trotz der aufgerufenen, teilweise happigen Miet(!)preise erwarten die Analystinnen und Analysten offensichtlich eine große Zahl zahlungsbereiter Kundinnen und Kunden, die sich eine Effizienzsteigerung und unterm Strich eine höhere Wertschöpfung versprechen, wenn sie diese Assistenzwerkzeuge lizenzieren. Als Professor an einer Fachhochschule ist mein Anspruch, dass es nicht meine Studierenden sind, die da wegoptimiert werden. Für mich ist daher klar: Verbieten sollte man den Einsatz dieser Werkzeuge nicht, besser noch man lehrt mit und an diesen Tools das effiziente Arbeiten in den eigenen Fachdomänen.

Denn die Geschwindigkeit, mit der diese Veränderung vor sich geht, ist enorm und beispiellos in der Geschichte der Zivilisation. Die Innovationen der ferneren Vergangenheit sickerten geradezu gemütlich in den Massenmarkt, die vermeintlich modernen schon schneller. Die Schwelle zu 100 Millionen Userinnen und Usern knackte das Mobiltelefon nach 16 Jahren, das Internet nach 7 Jahren, Facebook nach 4,5 Jahren und ChatGPT nach 2 Monaten. Da ergibt das Bild von der senkrecht startenden Rakete wortwörtlich Sinn.

ChatGPT 100 Millionen User

Abbildung: Vergleich der Zeitenräume von Start bis 100 Millionen Anwendende
Quelle: Adaption einer Abbildung von Microsoft

Mal ehrlich: Glaubt irgendjemand, dass ChatGPT an unseren Hochschulen nicht längst flächendeckend verwendet wird?

Schaut man mal auf die Art und Weise in der ‘man’ lehrt, sieht man schnell ein paar Herausforderungen, denn üblicherweise lehren wir ja so, dass wir mit einem leichten Beispiel anfangen und dann kommen immer neue Aspekte hinzu, bis wir bei einem Modell ankommen, mit dem wir die Realität beschreiben können. Also zum Beispiel in der klassischen Schulphysik: Erst machen wir ein Weg-Zeit-Gesetz, dann ein Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz und zum Schluss setzen wir das zusammen und können Bewegungen in einer Richtung beschreiben. Dann ersetzen wir die einzelnen Komponenten durch Vektoren und können Bewegungen im Raum beschreiben.

Das Ganze machen wir nicht, weil es Tradition ist, sondern die Idee dahinter ist, dass Lernende mit jedem Schritt immer einen etwas größeren Bereich beherrschen, aber nicht überfordert werden, sondern Sicherheit gewinnen.

Diese einzelnen Schritte machen wir nacheinander im Semester und dann gibt es klassische Wochenaufgaben oder in der Mathematik gibt es dann die sogenannten Übungszettel und in den Geisteswissenschaften wird neben der Hausarbeit ein Essay geschrieben oder ein Referat gehalten. Die Idee dahinter ist, die Lernenden immer auf einem Weg zu halten, auf dem sie sich automatisch weiterentwickeln, weil eben die Aufgaben schrittweise komplexer werden.

Und was machen wir als Lehrende? Wir nutzen das dann, um zu gucken, wo die gerade so alle stehen. Wenn ich jetzt einen Übungszettel habe, den 90 % der Studierenden nicht lösen konnten, dann habe ich irgendwas in der Vorlesung falsch gemacht. Relativ einfache Gleichung.

Und dann haben wir mit den großen Sprachmodellen natürlich ein Problem: Wenn die leichten Aufgaben mit deren Hilfe gelöst werden, dann fallen die Leitplanken und die Rückmeldungen weg. Dann fahren wir nicht mal mehr auf Sicht. Wenn ich die Menschen dann zweimal die Woche treffe, kann man da vielleicht noch gegensteuern, aber spätestens beim Fernstudium oder der dritten Reihe im Hörsaal ist der Abstand so groß, dass ich zu wenig Feedback kriege. Ich denke, da liegt die Herausforderung und es entstehen große Unsicherheiten bei den Lehrenden.

Zu Beginn des Sommersemesters stand ich nun also vor der selbst gestellten Aufgabe, generative KI-Systeme in meine Lehre zu integrieren bzw. den Umgang damit zum Gegenstand meiner Lehre zu machen. Eine ausführliche Beschreibung dieses Experiments und eines Versuches zum wissenschaftlichen Schreiben findet sich in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift “Die Neue Hochschule (DNH)” (Heft 2023-5). Ich will hier nur einen kurzen Abriss und eine Bewertung der Ergebnisse wiedergeben.

Im Grundlagenfach Ingenieurinformatik stand ich unter besonderem Zugzwang, weil vor der Veröffentlichung von ChatGPT im Oktober 2021 schon der GitHub-Co-Pilot veröffentlicht wurde. Das ist ein kollaborativer Programmierassistent, der auf der Basis von Millionen von öffentlichen Quellcode-Dateien trainiert wurde und in der Softwareentwicklungsumgebung Vorschläge für Codezeilen oder ganze Funktionen macht und schon den Coding-Teil aller meiner alten Klausuren besteht. ChatGPT besteht die Klausuren komplett. Der bisherige Ansatz der Open-Book- und Open-Internet-Klausur war damit ohnehin schon obsolet.

Zielgruppe des Kurses sind Studierende des Maschinenbaus und angrenzender Fachbereiche – Studierende, die ohnehin nicht besonders heiß auf das Fach Informatik sind, sonst hätten sie sich dafür entschieden. Die angestrebte Kompetenz ist daher gar nicht so sehr das komplette Durchdringen der Theorie, sondern eine gesunde Grundkenntnis der Anwendungsmöglichkeiten, die es erlaubt, Anforderungen zu entwickeln und zu formulieren und sinnvoll abzuschätzen, was geht und was nicht. Als Produktentwicklerinnen und -entwickler sollen sie in der Lage sein, zielführend mit denen zu kommunizieren, die Software entwickeln.

Leider haben viele Studierende in ihrer Schulzeit keine oder nur sehr wenig Berührung mit Programmierung, Algorithmen, Datenverarbeitung oder überhaupt professioneller Computernutzung gehabt. Der Kurs beginnt daher wirklich mit den grundlegenden Mechanismen und dem Erlernen einer höheren Programmiersprache. Und da steckt sehr viel Frustpotential drin: Fehlermeldungen sind gerade für Anfängerinnen und Anfänger schwer zu verstehen. Das macht den Einstieg in die Programmierung sehr schwer. Einzelne fehlende Semikolons oder falsche Zeilenumbrüche können schon mal zu mehrstündiger Fehlersuche führen. Frust und Demotivation sind da vor-’programmiert’. Für die beschriebene Kommunikationskompetenz ist das fehlerfreie Aufschreiben von Algorithmen in der Syntax einer Programmiersprache aber eher ein nice-to-have als eine Schlüsselqualifikation.

Also habe ich für mich entschieden, dass die zu vermittelnde Kompetenz für angehende Ingenieurinnen und Ingenieure sicher nicht das oft frustrierende Erlernen einer Syntax, sondern der Weg vom Problem über dessen Beschreibung zu dessen Lösung mittels eines Rechners ist. Dazu benötigte man bisher die Fähigkeit, in einer höheren Programmiersprache schreiben zu können. Um das Programmierenlernen zu erleichtern und zu motivieren, entschloss ich mich, den Einsatz von ChatGPT und gitHUB-Co-Pilot als Unterstützungswerkzeuge beim Erlernen der Erstellung von Quellcode in Java zu untersuchen.

Der Ansatz: In der ersten Vorlesungswoche wird GitHub-Co-Pilot installiert und das Semester komplett mit dessen Unterstützung und der von ChatGPT bestritten, d. h. ich ließ die Studiengruppe von Beginn an mit beiden Werkzeugen arbeiten und auch die Klausur wurde so gestellt, dass diese genutzt werden können.

Das funktioniert erstaunlich gut. Das Lesen, Verstehen und Nachvollziehen von Source-Code ist eben viel einfacher als das Schreiben. Um nachzuvollziehen, was der Code tut, und den auch vernünftig zu testen, braucht man etwas Erfahrung. Wenn das Erzeugen von Code aber viel schneller geht als das selber Schreiben, dann kann man auch sehr viel mehr Beispiele aus der Praxis betrachten und diese Erfahrung in kürzerer Zeit sammeln. Die gewonnene Zeit kann dann in die Vertiefung der eigentlichen ingenieurmäßigen Kompetenzen Modellbildung und Abstraktion investiert werden – beides Fähigkeiten, die in der schulischen Vorbildung leider nur sehr stiefmütterlich behandelt werden.

Da die Veröffentlichung der Tools in der Vergangenheit lag und allgemein bekannt war, erschien es nicht sinnvoll für das Experiment, zwei Vergleichsgruppen einzurichten. Daher erfolgte der Vergleich mit Studierendengruppen aus dem Jahr 2018, in denen bereits eine Befragung bezüglich der erlebten Emotionen im Kurs und im Studium allgemein durchgeführt wurde.

Der vorhandene Fragebogen wurde um Fragen zur Verwendung der Tools erweitert und die Studierenden wurden mittels dieses Fragebogens nach zwei Dritteln des Semesters und nach der Klausur befragt. So kann ein Vergleich mit einer Studiengruppe vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie angestellt werden.

In beiden Gruppen wurde das Niveau des Kurses überwiegend als hoch eingeschätzt. Das ist nicht verwunderlich, die behandelten Themen sind objektiv betrachtet anspruchsvoll und zumindest deutsche Schülerinnen und Schüler haben vor dem Studium nur beklagenswert selten bis gar nicht mit dieser Materie zu tun.

Die Verwendung der KI-Werkzeuge wird überwiegend positiv und als hilfreich beurteilt, das deckt sich auch mit den Beobachtungen während des Semesters. Durch die Unterstützung durch die Werkzeuge konnten die Studierenden viel früher und schneller Programmcode erzeugen. Auch beim Erstellen von Ablaufdiagrammen waren sie schneller als in den Vorjahren. Ganz allgemein agierten sie selbstsicherer und experimentierfreudiger als in den Vorjahren. Es gab deutlich weniger Situationen, in denen einzelne oder Gruppen feststeckten und nicht weiterarbeiten konnten. Diese Beobachtung deckt sich auch mit den Ergebnissen der Befragung, die Emotionen Frust und Überforderung traten weniger häufig auf, die Zufriedenheit mit den eigenen Fortschritten war größer.

Die Ergebnisse des Experiments legen nahe, dass ChatGPT und gitHUB-Co-Pilot positive Effekte auf das Lernen und Anwenden der Programmierung von Maschinenbaustudierenden haben. Die Werkzeuge erleichtern den Einstieg in die Programmierung, indem sie den Studierenden Vorschläge für Quellcode und Texte anbieten, die sie annehmen, ablehnen oder anpassen können. Die Werkzeuge fördern auch das Verständnis für die Programmierung, indem sie den Studierenden Feedback geben. Die Werkzeuge erhöhen zudem die Kreativität und die Produktivität der Studierenden, weil verschiedene Lösungswege erkundet werden können, wenn man nicht stundenlang im Klein-Klein einer verwirrenden Code-Syntax gefangen ist, sondern einfach noch schnell eine dritte, vierte oder fünfte Variante oder Erweiterung generieren kann.

Dabei ist die Verwendung dieser Tools kein Ersatz für den Kompetenzerwerb. Die Studierenden müssen immer noch die Grundkonzepte und -prinzipien der Programmierung lernen und anwenden. Sie können Design, Planung und Tests aber entspannter angehen, weil die Basisfunktionen automatisch erzeugt werden können. Dies führt auch dazu, dass die betrachteten Beispiele komplexer sein können und damit näher an der realen, praktischen Anwendung sind. Gerade für Studierende in den ersten Semestern ist es oft frustrierend, dass die im Studium verwendeten Beispiele so weit von der Praxis weg scheinen. Auch in der Ingenieurinformatik verwendete ich oft Beispiele, die nur wenige Aspekte einer realen Anwendung wie einer Produktstruktur, einer Maschinensteuerung oder einer Web-Anwendung umfassen. Aufgrund der hohen Umsetzungsgeschwindigkeit können jetzt aber auch umfangreichere Beispiele implementiert werden, so dass die betrachteten Anwendungen näher an der Realität sind.

Die Werkzeuge haben auch einige Einschränkungen: Der vorgeschlagene Code ist nicht immer korrekt. Die Studierenden müssen daher kritisch prüfen, ob die Vorschläge den Vorgaben entsprechen und das vorgegebene Problem korrekt lösen.

Der Selbstversuch zeigt, dass generative KI-Systeme eine positive Bereicherung für die Hochschullehre sein können. Studierende profitieren von effizienteren Lernprozessen und höherer Zufriedenheit. Aber es bedarf weiterer Erfahrung und Anpassungen, um die Integration von KI optimal zu gestalten.

Innovation in der Bildung erfordert eine kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Technologien und Bedürfnisse. Die generative KI könnte ein Wendepunkt sein, der die bisherige Lehre nicht ersetzt, sondern neu gestaltet und verbessert. Es liegt an uns Lehrenden, diese Werkzeuge sinnvoll einzusetzen und die Bildung auf eine neue Ebene zu heben. Die Veränderungen werfen viele Fragen auf, aber sie bieten auch spannende Möglichkeiten, die Bildungslandschaft zu revolutionieren. Ich bin sehr gespannt, wie sich das in den kommenden Wochen und Monaten entwickelt.

Fellow Jörn Schlingensiepen
Prof. Dr.-Ing. Jörn Schlingensiepen
Technische Hochschule Ingolstadt


Jörn Schlingensiepen ist Doktor-Ingenieur des Maschinenbaus und Professor für Ingenieurinformatik und computergestützte Produktentwicklung (CAD/CAE) an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Er ist Alumni-Fellow des KI-Campus (Jahrgang 2021/22).