Blogbeitrag 1 Jahr ChatGPT

Ein Jahr ChatGPT – Auswirkungen auf Studium und Lehre

By Dr. Aljoscha Burchardt
11/30/2023 - 10:00

Vor einem Jahr, am 30. November 2022, wurde ChatGPT einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seitdem hat sich der Einsatz des KI-Chatbots massiv auf den Bildungsbereich ausgewirkt. Anlässlich des Jubiläums spricht KI-Experte Aljoscha Burchardt (DFKI | KI-Campus) mit den Studierenden Henri Zalbertus und Jan Plüer (TUM) darüber, wie ChatGPT ihr Studium beeinflusst hat. Henri und Jan sind Research Assistants für angewandte generative KI an der TUM School of Management und entwickeln den Kurs „AIce Your Exams – Generative KI als Copilot im Schul- und Unialltag“ für den KI-Campus.

Lieber Henri, lieber Jan, hinter uns liegt ein aufregendes KI-Jahr. Wie habt ihr die Einführung von ChatGPT erlebt und wie hat sich euer Alltag seitdem verändert?

Das war wirklich ein spannendes Jahr! Seit ChatGPT verfügbar ist, hat sich unsere Arbeitsweise grundlegend verändert. Das betrifft sowohl die Geschwindigkeit, in der Aufgaben erledigt werden können, als auch die Vielfalt der Aufgabenbereiche, die durch generative KI-Tools jetzt möglich sind.

Wir merken jetzt erst, wie viel Zeit man früher durch repetitive Aufgaben im Alltag „verschwendet“ hat. Aktuell recherchieren wir beispielsweise bei uns an der Professur nach Literatur für ein Forschungsgebiet und fassen dafür Abstracts der Paper zusammen. Das hätte ohne ChatGPT eine Ewigkeit gedauert. Jetzt ist es eine Sache von Minuten. Das eröffnet Raum, sich stärker auf konzeptionelle Tätigkeiten und wichtigere Dinge zu konzentrieren.

Außerdem haben wir das Gefühl, dass unser Schreibstil etwas besser geworden ist – egal ob auf Deutsch oder Englisch. ChatGPT unterstützt dabei, sich besser, freundlicher und genauer auszudrücken, ohne dass man sich dafür besonders anstrengen muss.

Sollte ich den Stichpunkt auf der PowerPoint jetzt so formulieren oder lieber so? Kommt meine Kernaussage gut rüber? Solche Entscheidungen nimmt einem das Tool ab, dadurch ist der Fokus auf die eigentliche Aussage des Textes größer geworden.

Jan und Henri von der TUM

Jan Plüer und Henri Zalbertus (TUM School of Management)

ChatGPT sorgt wirklich für eine ganz schöne Disruption im Bildungssystem, dessen Probleme (Stichwort repetitive Aufgaben) an sich ja nicht neu sind. Über die Konsequenzen jeder einzelnen eurer Antworten könnte man lange reden – ich versuche es mal mit einer etwas provokativen, übergeordneten Frage zu bündeln: Welche Kompetenzen brauchen wir in der Zukunft überhaupt noch?

Allgemeine Problemlösungskompetenzen sind weiterhin zentral. Dadurch, dass uns generative KI viele repetitive Aufgaben abnimmt, können wir uns mehr auf die eigentliche Problemstellung konzentrieren.

Echte Kreativität des Menschen bleibt dennoch unersetzbar. Generative KI kann uns nur dann wirklich sinnvoll unterstützen, wenn wir ihr als Grundlage hochwertigen Content bereitstellen. Ein Verständnis der Thematik brauchen wir dementsprechend weiterhin. Informatiker:innen werden nun viel weniger händisch coden, müssen aber natürlich noch den gesamten Output verstehen können und anweisen, was überhaupt wie gecoded werden soll.

Auch Kommunikationsskills sind unserer Meinung nach extrem wichtig. Wir müssen mit dem System auf kluge Weise interagieren und Anforderungen präzise formulieren können.

Außerdem muss man sich eigentlich bereits heute vorausschauend fragen, welche Inhalte in den nächsten Monaten noch wertstiftend sind. Beispielweise ist es heute noch spannend, KI-generierte Bilder in Präsentationen zu verwenden, aber was könnte in einem halben Jahr spannend sein?
 

Wofür nutzt ihr denn ganz konkret generative KI-Tools im Studium? Nennt vielleicht mal die zwei bis drei für euch wichtigsten Anwendungen.

Wir haben ein „AI-First“-Mindset adaptiert. Bei jeder Aufgabe – egal ob für die Professur oder für unsere freiberuflichen Tätigkeiten – überlegen wir, ob sich hier mit KI etwas rausholen lässt.

Wir sehen all diese Tools nicht als eine Substitution für Google, sondern als Assistenz für bestimmte Aufgaben. Die wichtigsten Anwendungen für uns sind das Zusammenfassen von Materialien, das Formulieren von Texten, Python Codes und die Ideenfindung.

GPT-4 ist unser Go-To-KI-Tool und in unseren Augen derzeit alternativlos. Die Performance des Modells und die zusätzlichen Features sind deutlich besser als bei der Konkurrenz. OpenAI deckt damit so viele Use-Cases ab, dass wir derzeit keine weiteren Tools in den Alltag integrieren müssen. Beispielweise sind Tools zur Literaturrecherche bislang noch nicht so überzeugend, als dass sich eine Integration in unsere täglichen Arbeitsabläufe lohnen würde.

Die mobile ChatGPT-Version verwenden wir für fast alles, zum Beispiel auch für E-Mails. Die Diktierfunktion ist super angenehm, weil wir detaillierte Anweisungen einsprechen und uns das Tippen sparen können.

Ab und zu nutzen wir Poe, um auf den Chatbot Claude 2 zugreifen zu können. Das hat sich für einzelne Use-Cases wie längere Texte oder Mails aufgrund der sprachlichen Formulierungen als besser erwiesen. Wir sind außerdem auf Microsoft Copilot sehr gespannt.

Für Leute, die kein Geld zahlen möchten, ist der Bing Chat eine gute Alternative zu der Gratis-Version von ChatGPT. Mit Bard haben wir im Punkt Bias und Halluzinationen schlechte Erfahrungen gemacht.
 

Ihr seid ja Power-Nutzer! Und wie sieht es mit euren Kommiliton:innen aus? Ist das Nutzungsverhalten ähnlich? Gibt es da bestimmte Typen?

Das Nutzungsverhalten unterscheidet sich drastisch zwischen den Studierenden und es gibt wirklich alle Typen. In unseren Schulungen hatten wir Leute, die noch nie etwas mit KI-Tools zu tun hatten und entsprechend mindblown sind, und auf der anderen Seite Leute, die schon eigene API-Anwendungen mit Python bauen. Der Durchschnitt nutzt gelegentlich ChatGPT zur Inspiration und hat sich vielleicht mal kurz mit Prompt Engineering beschäftigt (eher durch Zufall).

Die allermeisten (wir schätzen 95 %) nutzen die Gratis-Version. Die Bereitschaft, Geld für die Nutzung zu zahlen, ist der größte Unterschied zu fortgeschrittenen User:innen. Die Qualitätsunterschiede sind enorm und entscheiden unserer Meinung nach darüber, ob jemand das Tool langfristig nutzen wird.

Es gibt auch einige, die ChatGPT als Schwachsinn bezeichnen. Wenn man sich dann deren Anweisungen in der Gratis-Version anschaut, wird klar, woher diese Meinung kommt. Das geht oft einher mit einer falschen, durch Medien aufgepushten Erwartungshaltung: ChatGPT ist eben kein Zauberstab, um seine eigene Leistung vollständig abzugeben.

 

Ich nehme mal an, ihr steht einem Verbot von Tools wie ChatGPT eher kritisch gegenüber. Warum sollte man aus eurer Sicht von einem Verbot von KI-Technologien an Schule und Universität absehen?

Verbote in den Lehreinrichtungen verhindern nicht, dass Schüler:innen und Studierende die Tools zuhause nutzen. Viel lieber sollte in einer kontrollierten Umgebung eine vernünftige Kompetenz im Umgang mit KI aufgebaut werden. Der Umgang mit KI-Tools wird auch für die Arbeitswelt immer wichtiger werden und man sollte frühzeitig die Chance bekommen, entsprechende Skills zu erwerben.

Generative KI hat enormes Potenzial, perspektivisch zum Beispiel auch als individuelle Lehrassistenz – unabhängig von der Anzahl der in der jeweiligen Institution zur Verfügung stehenden Lehrkräfte. Auf der anderen Seite gibt es heute viel mehr Deepfakes, Daten und Artikel können gefälscht werden und die Anzahl an Desinformationen im Internet wird immer größer. Außerdem können Arbeitsergebnisse von Tools wie ChatGPT natürlich als eigene Leistung ausgegeben werden. Dieses zweischneidige Schwert muss allen Nutzer:innen bewusst sein.

Wir finden es wichtig, anstelle von Verboten den Einsatz von KI in der Bildung zu regulieren. Der KI-Campus hat sich ja beispielsweise kürzlich beim Meetup in Berlin mit KI-Leitlinien der Hochschulen beschäftigt. Wichtig ist auf jeden Fall auch, dass transparent gemacht wird, wenn KI beispielsweise in Hausarbeiten eingesetzt wird.

Auf jeden Fall dürfen wir nicht in die typisch deutsche Skepsis verfallen! Datenschutz ist ein wichtiges Thema, aber auch hier gibt es Lösungen. Wer ChatGPT (im privaten) deswegen nicht nutzt, sollte sich über seine Accounts auf Social Media, die dort geposteten Inhalte sowie Bestellungen bei so manchem Online-Shop Gedanken machen.
 

Apropos deutsche Skepsis. Wo seht ihr denn die größten Gefahren beim Einsatz von KI insbesondere im Bildungskontext?

Eine generelle Gefahr ist die Abnahme von persönlicher Interaktion. Schon heute vermeiden wir es zu telefonieren. Alles muss online gehen. KI-erzeugte Texte verstärken dieses Problem enorm.

Auch die kollektive Kreativität kann durch KI zurückgehen. Die BCG Wharton Studie zeigt gut, wie zwar individuelle Kreativität zunimmt, aber gleichzeitig mehr oder weniger alle auf ähnliche Lösungen mit Hilfe von KI kommen.

Fakenews zum Beispiel aus Konfliktregionen und auch Deepfakes führen dazu, dass Informationen nicht zuverlässig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden können und Desinformationen sich schnell verbreiten.

In Bezug auf die Bildung ist besonders wichtig, dass man sich nicht auf den KI-Tools ausruht. Bots für Studium und Lehre sollten so entwickelt sein, dass sie keine Lösung vorgeben, sondern beim Weg dahin unterstützen. Für die Schule spezifisch entwickelte Tools wie Khanmingo geben beispielsweise „nur“ Tipps, um auf eine Lösung zu kommen. Die eigene Arbeit wird also immer noch benötigt.
 

Lasst uns noch einmal zusammenfassen und einen Ausblick wagen: Welche Möglichkeiten eröffnen sich durch den Einsatz von generativer KI für Unterricht und Lehre?

Durch generative KI werden viel interaktivere Formate für Unterricht und Lehre möglich. Beispielsweise können historische Personen nachgeahmt werden. Dadurch kann Wissen besonders anschaulich vermittelt werden.

Formate wie Vorlesungen können grundsätzlich in Frage gestellt und teilweise mit KI-Videogeneratoren wie HeyGen ersetzt werden. Stattdessen kann mehr Zeit für Tutorien und persönliche Betreuung eingeräumt werden. Prüfungsformate können dahingehend geändert werden, dass der eigentliche Gedankengang eine wesentlich größere Rolle spielt als bisher.

Schüler:innen und Studierende können Unterstützung bei jeglichen Fragestellungen erhalten und zwar in einer Art und Weise, wie sie es am liebsten hätten, ohne sich für „dumme Fragen“ zu schämen. Die Praxis, dass wie bislang für viele Lernende nur eine Lehrkraft zur Verfügung steht, muss überdacht werden. Voraussetzung ist natürlich, dass die genutzte KI verlässlich und vertrauensvoll ist.

Übergreifend können wir festhalten, dass generative KI als Copilot zukünftig immer stärker beim Lernen im Schul- und Unialltag unterstützen wird. In unserem bald startenden Kurs „AIce Your Exams“ auf dem KI-Campus geben wir einen Einblick, wie das heute schon konkret aussehen kann.
 

Ich danke euch für dieses Interview!

Aljoscha Burchardt
Dr. Aljoscha Burchardt
Stellv. Projektleiter (KI-Expertise und Community)
Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz

Dr. Aljoscha Burchardt ist Principal Researcher, Research Fellow und stellvertretender Standortsprecher des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) in Berlin. Er ist Experte für Sprachtechnologie und Künstliche Intelligenz. Außerdem war er als Sachverständiger Mitglied der Enquete-Kommission “Künstliche Intelligenz” des Deutschen Bundestages. Im Podcast „KI – und jetzt?“ geht Aljoscha zusammen mit der ARD-Journalistin Nadia Kailouli der Frage nach, wie wir KI nach unseren Wünschen gestalten können.